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Kurzgeschichten:
 

  • Desideria, 1991 (PDF, 18kB)                  
  • Gerechtigkeit, 1995
  • Zeitenwechsel, 1999
  • Nagel, 2004

 

Desideria

Vor einiger Zeit, als Discos gerade eben in Mode, Herzchenanhänger aber gerade noch nicht aus der Mode gekommen waren, lebte in einer Stadt, deren Namen nichts zur Sache tut, ein Mädchen. Den Namen des Mädchens sollte und darf ich vermutlich nennen, obgleich ich mir nicht sicher bin. Hätte ich ihn nämlich zur Zeit, von der hier die Rede ist, auch nur beiläufig erwähnt, wäre sie mir vor Wut unweigerlich an die Kehle gegangen.
Um es kurz zu machen, jenes Mädchen verabscheute ihren Namen. Sie verabscheute ihren Namen so sehr, dass sie ihn, solange es irgend ging, verschwieg und jedem, der ihn auf den Lippen führte, wie schon gesagt, an die Kehle sprang.
Um es noch kürzer zu machen, sie hieß Desideria und sie hasste sich dafür.
Es nutzte nichts, wenn ihre Freundinnen sie trösteten oder ihre Eltern sich erinnerten, sie hätten den Namen wegen seines Wohlklangs gewählt. Es nutzte noch weniger, dass ihr Lateinlehrer einmal ausführte, was der Name Desideria Schönes bedeute. Trotz aller noch so gut gemeinten Versuche war Desideria untröstlich und wurde zunehmend unleidlich, so dass diejenigen, die sie besser kannten, anstatt sie anzureden, bald nur noch die Schultern zuckten, während alle anderen sich mehrfach ihren blitzenden Zorn einhandelten, bevor sie gleichfalls die Schultern zu zucken begannen.

Damit keine Irrtümer aufkommen, - Desideria  war trotz ihrer Nöte durchaus kein unglücklicher Mensch oder gar eine traurige Gestalt. Sie war eigentlich ein liebenswertes Mädchen. Aus der Schule brachte sie, ohne sich besonders anzustrengen, gute Noten nach Hause, im Sportunterricht die schönsten Flic-flacs auf die Matte. Da sie zudem hübsch war, bedurfte es ebenfalls keiner Anstrengung, den Jungen den Kopf zu verdrehen. Diese, falls sie überhaupt von Desiderias  wundem Punkt wussten, gaben nicht viel darauf und blitzten prompt ab. Manch einer, so wird erzählt, habe sie daraufhin nur heißer und rettungsloser geliebt.

Während Desideria also für die einen unerreichbar blieb, blieb sie für andere, z.B. ihren neuen Sportlehrer, ein nie geklärtes Rätsel. Als dieser in der ersten Stunde des Schuljahres die Mädchen nach Liste aufrief, da war „Desideria?“, bewundert von einer atemlosen Riege Mitschülerinnen, „Abgegangen!“ Der Lydia, die der Sportlehrer stattdessen in sein Notizbüchlein eintrug,  brachte er später die schönsten Flic-flacs bei.
Und wenn sich Desideria sich heute an ihre Chemienote, eine Zwei, in Klasse 8 erinnert, dann kann sie nur ahnen, was sich in der damaligen Zensurenkonferenz abgespielt hat. Die Chemielehrerin, eine für ihr Fach recht furchtsame Person, wagte es nämlich nicht, Desideria, von der es plötzlich hieß, sie habe sie im Unterricht gehabt, in Zweifel zu ziehen. Nach Lehrerart gab sie der Unbekannten jene schmeichelhafte Zensur; während die fleißige, aber leider viel zu zurückhaltende Jessica, wenn sie denn so hieß, wieder einmal recht schlecht wegkam.

Auf diese Weise ging Desideria mit ihrem Namen um. Sie konnte Triumphe verbuchen, Niederlagen wurden seltener. Schließlich brachte sie es so weit, dass sie in Ruhe gelassen wurde, sei es aus Mitleid, aus gänsehäutigem Respekt, aus Ärger oder einfach aus Liebe.
Eines Tages schrieb Desideria, nachdem sie zweimal überprüft hatte, ob abgeschlossen war, ihren Namen dick mit Lippenstift über den Badezimmerspiegel. Dann wischte sie, ohne sich viel zu besinnnen, mit der Hand darüber. Aber erst, indem sie mit Nagelbürste und Seife daranging, brachte sie die schlimme Schrift weg. Als alles sauber war, weinte sie.

An einem Freitagabend geschah es.
Freitag war der Tag in der Woche, an dem Desideria mit den ihr verbliebenen Freundinnen in die Disco gehen durfte. Obwohl Desideria an Tanzen und Musik interessiert war, machte sie von dieser Erlaubnis keineswegs immer Gebrauch. Sie schob es auf die Jungen, die sie ‘zu blöd’ fand. Ihre Freundinnen, etwas erfahrerener als Desideria, wussten es besser. Sie liebten, wovor Desideria sich wand, einem Jungen unter dröhnenden Lautsprechern den eigenen Namen entgegen zu schreien oder, wenn die Situation es erlaubte, ins Ohr zu flüstern.

Warum sie trotz dieser Ängste an den meisten Freitagen mitkam, diese Frage vermied Desideria, damit ihr die Wahrheit nicht zu nah auf den Leib rückte.  Die Wahrheit bestand darin, dass Desideria insgeheim hoffte, in der Disco den Jungen ihrer Träume zu finden.
Wie oft hatte sie sich ausgemalt, die Musik würde einmal so laut, der Tanz so wild werden, dass sie im Chaos der Empfindungen ihren Namen gefahrlos ausstoßen könnte! Dann wollte sie am Gesicht des Jungen ablesen, dass er nichts, nichts verstanden hätte, und ihm mit dem letzten Akkord glücklich in die Arme fallen.
In anderen, weniger trotzigen Stimmungen stellte sie sich die Musik leise und zärtlich vor, so dass man sich wortlos und namenlos verstünde und schließlich gleichfalls in den Armen läge.

Ob leise oder wild, das wusste Desideria an jenem Freitagabend nicht, aber sie machte sich auf das Schönste gefasst. Sie hatte eine halbe Stunde gebraucht, um sich hübsch zu machen, und sogar ein wenig Schmuck hergesucht.
Leider war in der Disco alles wie gehabt. Am Anfang tanzte sie mit einem Jungen, den sie kannte, aber nicht mochte. Dann tanzte sie alleine. Wenn sie angesprochen wurde, war es nicht der Richtige. Oder die Musik wollte ihr nicht gefallen. Oder die Freundinnen kamen und hatten zu erzählen.
Schließlich beschloss Desideria, den Bus nach Hause zu nehmen. Im Gehen hörte sie, wie mitten im Titel die Musik weggedreht wurde. Vorn am Mischpult machte sich ein junger Mann aufs Podest. Wie es schien, hatte er etwas anzusagen. Als ein Spotlight auf ihn gerichtet wurde, sah man - sah nur eine nicht, denn sie schaute in sein Gesicht -, dass er etwas Kleines, Glitzerndes, offenbar eine Fundsache, in der Hand hielt. Jemand hätte ein Herzchen verloren, sagte er mit fester Stimme und lieben Augen, diejenige sollte sich das bei ihm abholen.
Desideria stand wie gebannt. Während schon einige kecke Mädchen auf dem Weg nach vorn waren, fasste sie sich auf die Brust und wusste Bescheid. Ihr goldener Anhänger! Ohne den Blick von dem zu lassen, der ihn gefunden hatte, musste sie daran denken, dass innen, wenn man es schaffte, das kleine Deckelchen zu öffnen, ihr Name eingraviert stand, Desideria.
Indem sie das dachte, war es schon passiert: Der Junge hielt das Herz offen an der Kette ins Licht.
„Da steht ein Name drin“, sagte er mit hilflosem Lächeln.
„Lies ihn!“, schrie die Menge.
Trotz des Spotlights war es zu dunkel.
„Lies ihn!“, rief eine jetzt Stimme aus dem Hintergrund, Desiderias.
Der Junge las.
Wie im Traum durchquerte Desideria den Saal. Ein Scheinwerfer fing das Rot ihrer Lippen und versetzte ihre Augen in ein merkwürdiges, stilles Blitzen.
Der Junge verstand nicht.
„Du bist ... ?“
„... Desideria“.
Sie streckte die Hand nach ihm aus, er legte das goldene Herzchen hinein und ergriff sie zugleich. Die Musik hatte schon begonnen.

 

 


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